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Der Alltag als Lehrplan - Pädagogik im Wandel
Pädagoge Günter Gutheinz geht nach 42 Jahren BBW-Tätigkeit in den Ruhestand. Er schildert im Rückblick die Veränderungen im Internat des Berufsbildungswerkes Waiblingen.
Nach 16 Monaten als Zivildienstleistender im Berufsbildungswerk (BBW) Waiblingen war für Günter Gutheinz klar: Hier will ich bleiben. Das hat er auch getan – und mehr als 42 Jahre Jugendliche im Internat betreut. Nun ging der 64-Jährige in den Ruhestand.
„Ich war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“, bringt Günter Gutheinz seinen Start im Berufsbildungswerk Waiblingen auf den Punkt. Im Oktober 1979 hat der damals 21-jährige Waiblinger seinen Zivildienst in der erst im Jahr zuvor eröffneten Einrichtung begonnen. Und war sofort begeistert von dieser für ihn völlig neuen Welt, vom Geist der Mitbestimmung und Eigenverantwortlichkeit, der im Berufsbildungswerk herrschte. Ein Kontrastprogramm zu seiner vorherigen Arbeit im Finanzamt, wo er auf Anraten seines Vaters nach der Wirtschaftsschule eine Ausbildung zum Finanzbeamten im mittleren Dienst absolviert hatte. „Die Ausbildung dort war eine schöne Zeit“, erzählt Günter Gutheinz, „doch ich habe sehnsüchtig auf den Zivildienst gewartet, denn das war eine tolle Möglichkeit, etwas ganz Anderes kennen zu lernen.“
Volltreffer im BBW: Zivi mit Faible für Fußball
Ein Finanzamtskollege gab ihm den Tipp, sich beim Berufsbildungswerk (BBW) Waiblingen zu bewerben. Im BBW werden junge Menschen mit besonderem Förderbedarf in verschiedenen Berufen ausgebildet bzw. darauf vorbereitet und somit fit gemacht für einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Jugendlichen kommen aus der ganzen Bundesrepublik. Für einen Teil besteht die Möglichkeit, vor Ort zu wohnen. Der Wohnbereich bietet zahlreiche Lernfelder für die Entwicklung sozialer und persönlicher Fähigkeiten. Erfahrene Pädagog*innen begleiten dabei.
Die Tätigkeit im sozialpädagogischen Bereich entpuppte sich für Günter Gutheinz als Volltreffer. Sich in Gruppen zu bewegen, das war er, der als jüngstes von fünf Kindern aufgewachsen ist, gewohnt. Die Arbeit mit den Jugendlichen, die nur wenige Jahre jünger als er selbst waren, machte ihm großen Spaß. Und dass er, seit jeher ein begeisterter Fußballer, im Rahmen der Freizeitbeschäftigung mit den Heranwachsenden dem runden Leder hinterher hechten durfte, „das war ein echtes Aha-Erlebnis“, sagt Günter Gutheinz im Rückblick. Wo sonst könne man in die Arbeit so viel Eigenanteil einbringen?
Schnell stand für ihn fest, dass er, wenn möglich, nach dem Zivildienst im Berufsbildungswerk Waiblingen bleiben wollte. Tatsächlich bot sich die Gelegenheit: Weil in der noch sehr jungen Einrichtung viele Meister aus der Wirtschaft ohne sozialpädagogischen Hintergrund tätig waren, bot das BBW eine drei Jahre dauernde berufsbegleitende Ausbildung zum Heilerziehungspfleger an, die Günter Gutheinz absolvierte. Währenddessen arbeitete er im Internat.
Neue Wohnformen haben sich entwickelt
Bis heute ist Teamarbeit das A und O im Internat, wo die Betreuenden Ansprechpersonen für die jungen Bewohner*innen sind, sie im Alltag begleiten und ihnen lebenspraktische Dinge vermitteln. Manches jedoch hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Statt in größeren Internatsgruppen, leben die Jugendlichen inzwischen in ganz unterschiedlichen Wohnformen – vom Einzelappartement bis zur Wohngruppe (WG) mit sechs Personen. „Der Betreuungsschlüssel war früher anders, die Finanzierung in den 1980er-Jahren deutlich besser. Heute hat man ein Budget, mit dem klarkommen muss“, sagt Günter Gutheinz, der 20 Jahre in der Mitarbeitervertretung aktiv war.
Stand früher die Gruppenpädagogik im Vordergrund, ist die Arbeit heutzutage durch die Individualisierung der Personenkreise komplexer. „Die Anhäufung von Problemlagen hat deutlich zugenommen, vor allem psychische Beeinträchtigungen,“ sagt Günter Gutheinz. Dafür gebe es keine Universallösung. Deshalb werden im BBW Waiblingen mit jedem einzelnen Jugendlichen ganz persönliche Förderziele benannt und regelmäßig überprüft – im Arbeitsalltag und im Lernort Wohnen, wie der BBW-Wohnbereich heißt.
Freizeitverhalten der Jugendlichen verändert sich
Einen verpflichtenden Teil des Förderplans bildet auch die Lernförderung. Wurde früher Nachhilfe auf Wunsch der Jugendlichen, also auf freiwilliger Basis, angeboten, gibt es heute in den Internaten Lerngruppen als festes Angebot. In Zeiten der Digitalisierung stellt sich damit auch die Frage: Welche Kompetenzen brauchen junge Menschen für ein Leben und Lernen in einer zunehmend digital geprägten Welt? „Durch den hohen Medienkonsum nehmen manche unserer Teilnehmenden kaum noch an anderen Freizeitaktivitäten teil. Wir versuchen sie durch gezielte Angebote wie z. B. Eislaufen und Tanzkurse vom PC wegzulocken“, sagt Günter Gutheinz. Er hat beobachtet: „Früher war die Lust der Jugendlichen auf gemeinsame Aktionen größer.“
Für Struktur sorgen deshalb regelmäßige Termine wie beispielsweise die wöchentlichen Kochabende in den Wohngruppen. Auch wenn das die Mitarbeiter*innen schon mal vor Herausforderungen stellt, wenn z. B. in einer 5er-Mädels-WG eine vegan isst, eine Vegetarierin dabei ist, die andere nur Rohkost zu sich nimmt, die Vierte Fleisch möchte und Mädel Nummer fünf keinen Appetit hat, erzählt Günter Gutheinz schmunzelnd.
Das Geheimnis der Internatspädagogik
Ein besonderes Anliegen war es Günter Gutheinz immer, den Jugendlichen auch Kultur nahe zu bringen, ihnen „Horizont erweiternde Erlebnisse“ zu bieten – vom Besuch im Weltweihnachtszirkus bis zur gemeinsamen Radtour nach Ungarn.
Von außen sei nicht immer ersichtlich, was Mitarbeiter*innen in Internaten leisten. „Das ist das Geheimnis der Internatspädagogik“, benennt es Günter Gutheinz. Im Internat werde der Alltag zum Lehrplan. Dort sei alles von Pädagog*innen durchdacht. Es gebe Regeln und alles ziele darauf, die jungen Menschen selbstständig werden zu lassen. Und zwar von sich heraus.
Die Arbeit mit Jugendlichen, sie halte jung, „aber man unterliegt schon Verschleißerscheinungen und der Beruf kostet viel Energie“, blickt der 64-Jährige zurück. Im Ruhestand will er daher einfach mal die Seele baumeln lassen und seinen Akku aufladen. Und sicherlich wird der passionierte Radfahrer auch die eine oder andere Tour mit dem Zweirad machen – es muss ja nicht gleich bis nach Budapest sein.