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Plötzlich Social Media Zivi

Blogger Kai Thomas Geiger

Zu dieser Aufgabe hier in der Diakonie Stetten bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind: ein Freund, ehemaliger Kollege und langjähriger Wegbegleiter hat mich gefragt, ob ich das Jubiläumsjahr der Diakonie Stetten immer mal wieder auf Social Media begleiten will. Eigentlich bin ich Kreativdirektor, Texter, Regisseur, Buchautor, Blogger. Also alles, nur kein Social Media Beauftragter für eine Institution, die sich um Menschen mit Unterstützungsbedarf kümmert.

Aber noch eines bin ich: saumäßig neugierig. Auf das, was ich nicht kenne. Das, was hinter Türen steckt, die sich nur öffnen, wenn man sich auf etwas Unbekanntes einlässt. Und auch auf das, was mir Angst macht und was mich befremdet. Das alles trifft auf Menschen mit Behinderung und die Arbeit der Diakonie in hohem Maße zu. Und deshalb machen wir das jetzt. Die Diakonie und ich und ihr hoffentlich auch: das Abenteuer, 1 Jahr lang Social Media Zivi für die Diakonie Stetten zu sein. Das wird vielleicht nicht immer politisch korrekt sein und vielleicht nicht immer wie man es von einer Einrichtung der evangelischen Kirche gewohnt ist – aber ganz sicher wird’s immer authentisch Ich sein. Versprochen.

Mein Name ist Kai Thomas Geiger und ich freu mich auf diese neue Erfahrung und den Sprung in ein für mich wirklich saukaltes Wasser: mehr als 35 Jahre nach meinem eigentlichen Zivildienst plötzlich Social Media Zivi zu sein.

>> Zum ersten Beitrag vom 25.01.2024

 

Danke fürs Dabeisein dürfen

20.12.2024

Mein Jahr als Social Media Zivi im Schnelldurchlauf: ich war in einer Kita und einem Altenheim, in einer inklusiven Schule und bei einem Hackathon, ich war bei „den harten Jungs auf der Hangweide“ und bei den schwerst mehrfach behinderten Kids im Wildermuthhaus. Ich habe in einer Schreinerei „gearbeitet“ und auf einem Bauernhof, durfte das Sommerfest und den Adventsmarkt mitfeiern. Ich war mit einer wilden Truppe zum Fußballgucken verabredet und mit einer 100-Jährigen zum Gespräch. Ein bisschen über Gott und viel über die Welt. Vor 2 Tagen rief sie mich wieder einmal an und wir führten die Unterhaltung fort.

Mein Jahr mit der Diakonie begann und endete in einer Kirche. Und was mich schon beim ersten inklusiven Gottesdienst begeistert hat, spielte sich auch diesmal wieder ab: Klienten der Diakonie riefen an den unpassendsten Stellen laut „Amen“ ins Geschehen. Ganz lebendig und impulsiv. Vielleicht ja, weil sie in diesem Moment eine besondere Verbindung gespürt haben?

Am Ende des Jubiläumsjahres waren es dann echt viele Einsätze. Und jemand sagte zu mir: „So viel Diakonie wie Du hat hier noch keiner erlebt.“ Zumindest nicht in 12 Monaten. Aber gut: Von 175 Jahren durfte ich immerhin 1 ganzes Jahr mitbegleiten.

Vor jedem Einsatz war da aber erstmal Unbehagen. Weil mich immer unbekanntes, und oft unangenehmes Terrain erwartete, weit außerhalb meiner Komfortzone. Behinderung, Alter, Pflege, psychische Erkrankungen, Betreuung – das waren alles nicht gerade meine Lieblingsthemen. Nach jedem Einsatz war ich aber um eine Erfahrung reicher – und um viele Begegnungen beseelter.

Weil ich jedes Mal ganz schön viel Leben gespürt habe. Ich durfte Lebensentwürfe sehen, die mir sonst verborgen geblieben wären. Bin hingebungsvollen Pfleger*innen begegnet, die ich am liebsten in den Arm genommen hätte. Habe Eltern und Angehörige erlebt, von deren Mut und Zuversicht ich mir gern eine Portion mitgenommen hätte.

Und so unterschiedlich die Themen und Einsatzorte auch waren, eines war überall gleich: Es waren immer die Menschen und das, was zwischen den Menschen war, das mich berührt hat: die Fürsorge und Aufmerksamkeit, die Freude, aber auch die Distanz, der Austausch – und ja, die Liebe.

Gegen Ende des Jahres hatte ich ein intensives Gespräch mit Dietmar Prexl, dem Vorstandsvorsitzenden der Diakonie. Unser Dialog drehte sich kurz um Geld. Weil das knapp ist und der Druck hoch. Weil die Politik nicht das tut, was die Menschen brauchen. Und unser Dialog drehte sich lange um die Menschen. Um das richtige und wichtige Maß an Zuwendung und Nähe. Um das Einbeziehen anstelle des Ausgrenzens. Und wie das, bei aller Nächstenliebe, trotzdem anstrengend und nicht so selbstverständlich ist, wie es manchmal aussieht. Oder wie es im Abschlussgottesdienst hieß „Schenke uns die Kraft, füreinander einzustehen. Damit alle dabei sind.“ Danke an Euch bei der Diakonie Stetten, dass ich ein ganzes Jahr dabei sein durfte. Amen.

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Das war der letzte Beitrag unseres Social Media Zivis Kai Thomas Geiger. Im nächsten und zugleich letzten Teil unserer Jubiläumsserie sagen auch wir noch Danke.

 

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Pferde hören Herzen schlagen

18.12.2024

Als David aufs Pferd steigt, schnauft Scarlett zufrieden. Ein Pferdeschnauben – vielleicht das schönste Geräusch der Welt. David ist Autist und hat ADHS – und was dann passiert, beschreibt Maren, die ihn physiotherapeutisch begleitet, als kleine Sensation: denn David wirft auf dem Pferd sitzend Ringe auf ein Ziel und trifft bei jedem Versuch. Seine Freude darüber teilt er lautstark der gesamten Reithalle mit. Bis vor kurzem hat David noch niemanden angesehen, geschweige denn angesprochen. „Ohne Pferd unter dem Hintern wäre das nicht passiert“, ist sich Maren sicher.

David ist einer von 70 Menschen pro Woche, die hier auf dem Pferdehof der Diakonie therapeutisch reiten. Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Die Arbeit auf und mit dem Pferd spricht dabei beides an: die Psyche und den Körper. Manche lernen hier reiten, andere laufen oder sich auszudrücken. Mit freundlicher Unterstützung von Heidi, Wirbel, JJ, Pünktchen, Bia, Scarlett und 7 weiteren Pferden – die von den Zweibeinern liebe- und respektvoll Kollegengenannt werden.

Doch nicht alle Menschen mit Behinderung kommen zum Reiten her. Viele sind auch zum Arbeiten da: 15 von ihnen bietet der Pferdehof einen festen Arbeitsplatz – und ein gutes Umfeld. Denn viele Aufgaben auf dem Hof sind nicht zeitkritisch, und es wird auch keine definierte Qualität erwartet. „Wenn jemand aus der Fördergruppe ein Pferd putzt, dann ist das halt anders sauber – aber es ist auch sauber“, sagt Mariann. Sie ist Fachkraft für pferdgestützte Pädagogik.

Wie lange es den Hof schon gibt, will ich von ihr wissen. „Den gibt’s schon immer“ sagt sie. „Und seit es ihn gibt, gibt es hier Inklusion“. Denn die Menschen, die hier arbeiten und mithelfen - egal, ob mit oder ohne Behinderung – sie schmeißen den Laden, den sie so gut kennen.

Mariann lädt zur Einsatzbesprechung. Wer macht heute was auf dem Hof? Alle tragen grüne Arbeitshosen, grüne Oberteile, feste Handschuhe. Nur ich nicht. „Hätte ich gewusst, dass das eure Uniform ist, hätte ich mir auch was Grünes angezogen“, sage ich. „Ist doch gut. Dann kannst du ja einfach zuschauen, wie wir schaffen“, antwortet ein Klient. Genau mein Humor – und meine Arbeitsmoral. Doch Mariann hat etwas anderes mit mir vor und teilt mich Lena zu. Ich soll ihr im Stall beim Ausmisten helfen.

Lena ist mit einer Hirnschädigung zur Welt gekommen. Seit ihrer Schulzeit hilft sie auf dem Pferdehof. Erst immer mal wieder. Inzwischen von Montag bis Freitag, fest.

Lena lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft. Vieles, was sie für das Zusammenleben dort braucht, lernt sie hier auf dem Hof. Zum Beispiel, dass sie anfangs viel zu laut und ungestüm im Umgang mit den Tieren war. Pferde, hat Maren ihr erklärt, sind sehr sensibel. Vor allem ihr Gehör: Im Umkreis von einem Meter können sie den Herzschlag eines Menschen wahrnehmen.

5 Jahre schon arbeitet Lena auf dem Hof. Mittlerweile ist sie viel ruhiger geworden. Und super feinfühlig im Umgang mit Bia, Scarlett, Pünktchen & Co. So sehr, dass Lena manchmal fragt: „Kann dieses Pferd auch mein Herz hören?“

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Mutmachen statt Angstmachen

10.12.2024

Der Abend beginnt mit zu wenigen Stühlen. Mit so vielen Zuhörern hatte wohl niemand bei der Diakonie gerechnet, als sie zur Buchvorstellung mit anschließender Diskussion ins Bürgerhaus Kernen einlud. Der Titel des Buches: „Oh, ich hasse dieses Pack“ - eine Biografie über das Leben und Wirken von Leonie Fürst.

1940 tritt sie als junge Ärztin ihren Dienst in der Heil- und Pflegeanstalt Stetten an und wird dort Zeugin und Widerstandskämpferin gegen die nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen. Innerhalb weniger Monate werden 394 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen aus Stetten deportiert - und ermordet.

Leonie Fürst versucht, die Bewohner durch Entlassungen vor der Deportation zu bewahren. Sie verhandelt mit dem Innenministerium und erstellt Gutachten, um möglichst viele als arbeits- und kommunikationsfähig darzustellen und so vor dem Tod zu bewahren. Kurz: Sie kämpft mit aller Kraft und muss doch oft mit ansehen, wie das Unheil seinen Lauf nimmt.

Kathrin Bauer, Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Grafeneck, hat daraus ein biografisches Werk gemacht, das Mut machen will, nicht Angst. Sie liest an diesem Abend nicht daraus, sondern berichtet von der aufwendigen Recherchearbeit. Und statt ein so wichtiges Werk dann an einem Bücherstand zu verkaufen, dürfen es alle Besucher*innen gratis mitnehmen.

In der Hoffnung, dass sich Geschichte nicht wiederholt, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen. Auch mit den unbequemen Kapiteln. Sie nicht ausblenden, sondern uns ihnen mutig stellen. So wie es Leonie Fürst getan hat - und jetzt in gewisser Weise auch Kathrin Bauer.

Weil sie nicht nur vom Grauen erzählt. Sondern auch vom Aufstehen und Sichwehren. Vom Hinschauen und Rückgrat zeigen. Etwas, das in Zeiten wie diesen so wichtig ist wie lange nicht mehr. Es ist der 3. Dezember - der internationale Tag der Menschen mit Behinderung.
 

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Erhöhte Temperatur ums Herz

04.12.2024

Irgendwann ist er da: der perfekte Moment: Als der Nachmittag in den Abend übergeht, bietet sich den Besuchern des Adventsmarktes ein beeindruckendes Schauspiel: unten erstrahlt der Schlosshof – das Headquarter der Diakonie Stetten – in spektakulär schönen Farben, oben leuchtet der Himmel dazu in Türkisblau. Wie abgesprochen zwischen dem Wettergott und den vielen fleißigen Helfern, die diesen Weihnachtsmarkt organisiert haben. Mit Punsch und Christstollen, Waffeln und Crêpes. Mit einem Alphornkonzert und Adventsliedern. Mit Kerzen zum Selbermachen und Geschenken aus der Kreativwerkstatt.

Auf der Bühne der Turnhalle fährt eine Modelleisenbahn durch eine Winterlandschaft. Gerade schnell genug, um den Kinderhänden zu entkommen, die den Miniatur-ICE am liebsten mit nach Hause nehmen würden. Überall staunende Gesichter, bei den Großen wie bei den Kleinen. Und dazwischen – weil es hier die normalste Sache der Welt ist: Klienten der Diakonie. Viele offensichtlich mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Manche von Betreuer*innen begleitet, andere von den Eltern, wieder andere von Mitbewohnern*innen. Einer sitzt auf dem Boden und sortiert gewissenhaft das Laub.

Man spürt, dass es heute nicht darum geht, Dinge aus der Behindertenwerkstatt gegen eine Spende zu verkaufen. Es geht um das Miteinander. Um das Schauen und Staunen, um das Aufsaugen der Stimmung. Denn es braucht nicht viel, damit dieses Miteinander entsteht: Nähe, Wärme, Licht. Und dass jeder den anderen so sein lässt, wie er ist.

Und dann spricht mich jemand an. Ob ich nicht der Social Media Zivi sei. Er habe sich schon länger vorgenommen, im Internet zu kommentieren, wie gut ihm die Berichte gefallen. Aber jetzt sei es natürlich schöner, so persönlich, von Mensch zu Mensch. Wieder ein perfekter Moment. Ich freue mich über das vorgezogene Weihnachtsgeschenk – und darüber, dass es rund ums Herz jetzt noch ein kleines bisschen wärmer geworden ist.
 

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Wenn Khawla erzählt.

21.11.2024

Die heimliche Hauptdarstellerin steht gar nicht auf dem Programm. Angekündigt ist da Rüdiger von Fritsch. Ex-Botschafter in Warschau und Moskau. Ex-Vizepräsident des BND. Jetzt Bestseller-Autor und gern geladener Talkshow-Gast. Ein Bilderbuch-Diplomat: dunkler Anzug, Aktentasche – und die leise Hoffnung, dass er uns darin seinen Plan B für Frieden in unfriedlichen Zeiten mitgebracht hat.

Beim Ethikforum der Diakonie ist er der Experte. Theoretisch. Denn erstmal berichtet Khawla aus der schrecklichen Praxis des Krieges. Ihre Stationen sind andere: 18 Jahre jung, in Syrien geboren, über Italien geflüchtet, in Deutschland Schutz – und bei der Diakonie Obhut gefunden.   

„Ich bin schon behindert, aber mein Kopf ist sehr schlau“, gewinnt sie den vollgepackten Bürgersaal Kernen für sich. Und dann erzählt sie. Von den Bomben und den Schreien. Wie die Kämpfe in ihrem Kopf weitergehen. Vom auf der Flucht sein und von der Rettung. Für einen Moment zieht die Wirklichkeit des Krieges in den Saal, aber auch die Hoffnung. Ich weiß nicht, was berührender ist: ihre Geschichte oder ihr Mut, sie trotz Sprachbehinderung zu erzählen. „Ich hoffe, dass Ihr mich alle versteht.“

Rüdiger von Fritsch hat keinen leichten Stand nach so einem Vorprogramm. Er will über Frieden sprechen, nicht über Krieg. 1974 war er für ein halbes Jahr Sozialpraktikant bei der Diakonie in Stetten. Das habe ihn geprägt in seinem Menschenbild.

Wir erfahren, dass zu einem nachhaltigen Frieden mehr gehört, als die Abwesenheit von Krieg: das Interesse am Anderen. Die Aufgeschlossenheit. Der Dialog. Und was für internationale Beziehungen gelte, gilt für alle. In der großen weiten, wie in der kleinen nahen Welt.

Sein Lösungsvorschlag ist aber leider nicht nur Diplomatie. Sondern Krieg. Eine wehrhafte Ukraine, die Putin an seine Grenzen - und um seine Macht bringe. Also alles wie bisher. Kein Plan B aus der Aktentasche.

Was Hoffnung macht: Dass viele nach dem Vortrag zusammenstehen und sprechen, debattieren, sich austauschen. Menschen, die so miteinander reden, wollen eine Lösung. Und dann das: jemand hat unter die Frage, was ihm oder ihr in diesen Zeiten Zuversicht gibt, 3 Worte geschrieben: Wenn Khawla erzählt.

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Ein fester Teil der Frösche

08.11.2024

Tilda, Emil, Valentina, Marbella, Charlie, Miki, Felia – ich und Namen. Aber die der Kinder kann ich mir komischerweise merken. Besser als Erwachsenennamen. Vielleicht ja, weil wir sie zur Begrüßung singen?

Ein Vormittag in der inklusiven Kita „Baumhaus“, wo Kinder ohne – und solche mit erhöhtem Förderbedarf gemeinsam betreut werden. Die sogenannten i-Kinder. Das i für Inklusion. Doch im Kita-Alltag, da sind sie alle zusammen „Die Frösche“.

Von 20 Fröschen sind 13 da. Der Rest hat Herbstferien. „Im Warmen“ erzählt mir Leon (3). Überhaupt sind sie hier alle 3 Jahre klein. Und als ich sie auf 9 und 15 schätze, lachen sie sich scheps wie nur Kinder es können. „Warum sind deine Haare so weiß?“ will er wissen. „Leon, dieses Gespräch ist beendet“, antworte ich und wende mich Tilda zu, die mir geduldig den Tagesablauf erklärt: Frühstück, Zähneputzen, Morgenkreis, Bauecke, Draußenspielen, Mittagessen, Schlafen, Elternabholen.

Das Programm gilt auch für Emil, der eine 24/7 Betreuung braucht. Er hat ein Tracheostoma am Hals und seine eigene Kinderkrankenschwester dabei: sie findet es richtig gut, dass Emil hier ist. Bei den anderen. Bei denen ohne i. Sie erzählt, wie sein Selbstbewusstsein hier gewachsen ist, und seine Fähigkeit, sich auszudrücken. Als Emil kam, konnte er nicht laufen. Jetzt geht er zum Regal und holt sich ein 34-Teile-Puzzle. Andere lernen hier sprechen – oder Deutsch sprechen. Denn auch Migrationshintergrund macht aus einem Kind ein i-Kind.

Und dann ist da Matteo. Er hat einen Gendefekt und sitzt im Kinderrollstuhl. Manche der Kinder sagen über Emil und Matteo, sie seien ihre Freunde. Und alle sagen sie: beide sind ein fester Teil der Frösche.

„Die Kinder haben eine gesunde Distanz zu Besonderheiten“, erzählt Luana, eine der Betreuerinnen der Frösche. „Wir sind diejenigen, die Inklusion machen. Das braucht schon uns.“

Und trotzdem gibt es Beispiele wie es ohne Anleitung funktioniert: will Matteo sich die Hände waschen und kommt nicht an die Seife, drückt eines der anderen Kinder den Spender nach unten, ein weiteres reicht das Handtuch. Intuitive Inklusion im Kleinen.

Weil der Oktober schön strahlt, gehen wir zum Spielen raus. Plötzlich hält Matteo neben mir, greift meine Hand und sagt, wie sehr er die Sonne mag. Dann öffnet sich die Tür und eine zweite Kita-Gruppe strömt ins Freie: die Delfine sind los. „Ich kann mir auf gar keinen Fall noch mehr Kindernamen merken,“ protestiere ich - und Matteo drückt meine Hand ein bisschen fester. „Ich glaube, mein Hirn läuft gleich über.“ Und mein Herz auch.
 

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Die WG, die man nicht aussucht

31.10.2024

Am beeindruckendsten ist die Normalität, mit der man hier dem Anderssein begegnet. Die Bewohner sind besonders, aber für David ist das alles ganz normal: Dass mal einer Zigarettenstummel isst. Dass manchmal jemand nackt auf dem Hof steht. Und dass David selbst heute morgen hier ist. Trotz Fieber. „Sonst wäre ja keiner für die Leute da“ sagt er.

Die Leute, das sind Menschen mit herausforderndem Verhalten. Geistig behindert, manche autistisch, viele autoaggressiv. Hier auf der Hangweide wohnen sie in Fünfergruppen zusammen. David, der seit Corona hier arbeitet und betreut und fährt und überhaupt alles für seine Jungs macht, beschreibt dieses Zusammen so: „Einer hat Schmerzen. Und sagt dann nichts, sondern reagiert aggressiv.“ Das schaukelt sich hoch. Den anderen wird’s zu laut – und sie reagieren ebenfalls mit Aggressionen. „Das ist eben eine Wohngemeinschaft, die man sich nicht aussuchen kann“, beschreibt es Davids Kollege Sandro.

An diesem Morgen bleibt all das theoretisch. Die Jungs sind friedlich. Zumindest physisch. Martin findet meine Anwesenheit nur so mittelgut. „Blödmann…Arschloch“ murmelt er. Ich frage David, ob das vielleicht Tourette ist. Es ist aber wohl Martins Meinung. Ungefiltert. Ich staune über sein Straßenarbeiter-Outfit, den Helm, das tragbare Radio, aus dem „Betty Davis Eyes“ scheppert. Aus einem Zimmer dringen Schreie. Alles ganz normal. Alles in Ordnung hier auf der Hangweide.

So wie für Heiko. Er ist Autist und kann nicht durch Türen gehen oder über Gras laufen. Also hat er seinen eigenen Eingang. Und eigene Betonplatten, die von seinem Zimmer in den Garten führen. „,Wenn die Welt nicht in Ordnung ist, muss sie eben angepasst werden“.

In diese Unterhaltung platzt Marcel. Für ihn geht’s gleich zur Arbeit, wenn der Fahrdienst kommt. Er verlangt nach seinen Haferflocken, dann entdeckt er mich. Einen Fremden im System. Doch statt aggressiv wird er emotional. Echt schade sei das, dass ich nur heute hier bin. „Dann können wir uns gar nicht richtig kennenlernen“.
 

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Gegen das Muckenbatscher-Image

19.09.2024

Die Bildzeitung, die Brötchentüte, der Michael Ballack Hanuta Sticker auf dem Spind – wenn man nicht wüsste, wo man ist, könnte man meinen, das hier ist ein ganz normaler Industriebetrieb. Und wenn es nach Alfred geht, sind die Remstal Werkstätten auch genau das.

Alfred leitet diesen Betrieb, in dem Menschen mit Behinderungen montieren, konfektionieren, verpacken. Zum Beispiel Schraubzwingen für ein schwäbisches Traditionsunternehmen.

Das brachte ihm den Beinamen „Herr der Zwingen“. Er ist der Kapo. Derjenige, der das Sagen hat. Das wissen alle – und nennen ihn trotzdem Alfred. Denn er will unbedingt Kollege sein und nicht Boss. Und er will ein richtiger Zulieferer sein.

Das liegt Alfred besonders am Herzen: Dass sie wegkommen vom „Muckenbatscher-Image“. Sie sind hier keine Behindertenwerkstatt, in der man einfachste Arbeiten ausführt, für die sich andere zu schade sind. Sie sind ein ernstzunehmender Industriebetrieb. „Unsere Konkurrenz ist Fernost“ sagt er. Weil die noch günstiger produzieren, als er es mit seinen Mitarbeiter*innen kann.

Das Modell ist durchaus attraktiv für Auftraggeber, weil sie gute Arbeit zuverlässig zu fairen Preisen bekommen.

Alfreds großes Ziel ist aber kein betriebswirtschaftliches, sondern ein soziales: Dass es möglichst viele Menschen mit Behinderung von hier auf den regulären Arbeitsmarkt schaffen. Ein paar Mal ist ihm das bereits gelungen.

Er ist schon lange in unterschiedlichsten Funktionen bei der Diakonie Stetten. Hat viel gelernt, und noch mehr verstanden: „Der Stärkere nimmt den Nächsten mit“ erklärt er sein Management-Prinzip. Und wenn man das so hört, denkt niemand mehr an Muckenbatscher.

(* schwäbisch für Fliegenklatsche– um es barrierefrei zu sagen)
 

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Die KiWi-Kinder

05.09.2024

Ich brauche 4 Tage, bis ich das Erlebte verarbeitet und halbwegs für mich eingeordnet habe: ein Vormittag in der KiWi – der Kindergruppe im Wildermuthhaus der Diakonie Stetten.

Wobei die Kinder dort zwischen 2 und 24 sind. Sie fallen aber nicht nur in der Definition, bis zu welchem Alter Kinder noch Kinder sind, aus dem Rahmen. Auf eine Art sind hier alle Systemsprenger, sagt man mir im Vorfeld. Und sie sprengen mehr als das. Meine Vorstellung zum Beispiel, was es braucht an Versorgung, Betreuung, Technik – und ja, auch Geld, wenn Menschen schwerst mehrfach behindert sind. Und wie man das bitteschön alles schafft.

Eine Frage, die sich Annette bestimmt nicht stellt. Annette tut es. Sie pflegt, betreut, tröstet, füttert, versteht. Seit fast 30 Jahren. Mit 2 Jahren Unterbrechung, weil sie da selbst Kinder bekommen hat. In den Pausen aber hat sie schnell gespürt: „Ich muss zurück zu meinen Kids“.

Diese Kids, sie bewegen sich kaum von allein. Sie sprechen nicht. Sie brauchen bei fast allem Unterstützung. Geistig und motorisch sind es eher Säuglinge. Einer davon ist Patrick, der neulich deutliche Signale von Freude gezeigt hat, als Dieter Thomas Kuhn lief. Also ist Annette mit ihm aufs Konzert gefahren.

„Die kriegen doch eh nichts mit“ sprach ein Bekannter von Annette das aus, was vielleicht schon jeder von uns mal für eine Sekunde gedacht hat. Nur um sich sofort danach für diesen Gedanken zu schämen. Aber Annette widersprach vehement: „Du hast ja keine Ahnung, was diese Kinder alles mitbekommen“.

Zusammen „gucken“ wir Olympia. Wobei die KiWi Kinder an die Decke schauen - oder an einen Ort, den keiner von uns kennt.

13 stationäre Plätze hat die Wohngruppe. Einige Kinder werden von Ihren Eltern nicht mal besucht. Man hofft inständig, dass sie zumindest das nicht wirklich mitbekommen oder bewerten können und befürchtet, doch. Weil Liebe ein Ur-Instinkt ist. Und der funktioniert bei Patrick und den anderen. Er funktioniert, wenn er müde ist oder knatschig, wenn er Hunger hat oder sich über etwas freut. Er funktioniert, wenn Dieter Thomas Kuhn singt. Und er funktioniert wahrscheinlich auch, wenn man Patrick die Liebe entzieht.

Dass da in diesem gekrümmten Körper ein Herz schlägt und eine Seele wohnt, wird niemand bestreiten. Und Annette kann es an hunderten Augenblicken belegen.

Ich brauche 4 Tage. Dann verstehe ich: ohne Menschen wie Patrick wäre die Welt nicht vollständig. Und ohne Menschen wie Annette würde sie zusammenbrechen.
 

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Stockbrot mit den Schweigefüchsen

29.08.2024

Ein lauter Gong ruft zum Morgenkreis auf dem Bolzplatz. Also stellen sich fast 100 Kinder und zwei Dutzend Erwachsene brav auf. „Machen wir schon wieder ein Spiel?“ nörgelt ein Junge im CR7 Ronaldo-Trikot. Machen wir. Fischer, welche Fahne weht heute? Und ich bin gleich mittendrin im zweiten Ferientag des inklusiven Waldheims der Offenen Hilfen der Diakonie Stetten auf dem Stadtteilbauernhof Cannstatt.

76 Kinder ohne und 21 mit Behinderung nutzen in dieser ersten Waldheimwoche Stuttgarts größtes inklusives Sommer-Angebot. Eine bunte Rasselbande, die erstmal auf Vollständigkeit gecheckt wird: Wo sind die Löwentiger? Hier! Wo die Popkörner? Alle da! Die Schweigefüchse? Anwesend!

Fast dreißig Freiwillige unterstützen das Betreuer-Kernteam. Zusammen machen sie den Kindern jeden Morgen neue Tagesangebote. Trommeln bauen oder Stockbrot machen. Motivbücher basteln oder Fußball spielen. Natürlich kickt Klein Ronaldo dabei am besten.

Bei den Bewegungsspielen wird die Reise nach Jerusalem kurzerhand mangels Stühlen umgestaltet: stoppt die Musik aus dem Bluetooth-Lautsprecher, müssen alle aufhören zu tanzen. Im Zelt nebenan wird unterdessen ein Musical einstudiert. Drehbuch: ChatGPT. Liedauswahl: die Kids.

Der Titelsong „Völlig losgelöst“ dringt bis in den Stall gegenüber. Wo gerade Hummel, die Ziege, gemolken wird. Die Kinder haben jede Menge Fragen dazu – z.B., warum die Kuh so klein ist - und Betreuerin Sophie gibt geduldig Bio-Nachhilfe.

Manche der Kinder brauchen aufgrund ihrer Behinderung eine 1:1 Betreuung. Stoßen sie zu einem Angebot, haben sie halt einfach einen Erwachsenen dabei. Dass sie motorisch nicht alles mitmachen können oder die Musicalprobe um sehr originelle und sehr spontane Tanzeinlagen ergänzen – das ist hier ganz normal.

Und es ist total schön zu sehen, wie alle gleichermaßen integriert sind, ob mit oder ohne Behinderung, ob Schweigefuchs oder Löwentiger. Sie alle verschmelzen zu einem großen Ganzen, Kunterbunten - aus lauter kleinen Individuen.
 

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Kick it like Kimmich

18.07.2024

Keine 12 Stunden nach dem unglücklichen Ausscheiden der Deutschen Mannschaft aus der EM soll der Mensch schon wieder Fußball gucken und dabei gute Laune bekommen? Ja geht. Wenn der Enthusiasmus der Spieler*innen – wie beim inklusiven Fußballturnier der Diakonie Stetten – so dermaßen ansteckend ist.

Ausgetragen als Kleinfeld-Turnier in der EM-Fanzone vor dem Stuttgarter Rathaus treten 8 Teams gegeneinander an. Von der Lebenshilfe Nagold über den VfB Stuttgart bis zu den Unified Allstars. Natürlich schickt auch die #DiakonieStetten ein eigenes Team auf Torejagd.

Und die ist wirklich besonders. Denn gespielt wird in gemischten Mannschaften: Fußballer*innen mit und ohne Behinderung bilden gemeinsam ein Team.

Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann bringt es zwischen zwei Partien auf den Punkt: Das sportliche Miteinander ist für sie nur der erste Schritt. Das Vorrundenspiel sozusagen, Als nächstes müsse diese Arbeit auch viel mehr in die Stadt und in die Gesellschaft. Hier und heute sei aber ein guter Anstoß zum Umdenken.

Denkt sich auch der inklusive VfB – und fegt die Unified Allstars gleich mal mit 7:1 vom Platz. Deutschland – Brasilien lässt grüßen.

Bestes Spiel wird die Partie Nellingen/Esslingen gegen Tübingen United (5:2). Geprägt von zwei ganz starken Torhüterleistungen. Wovon ein Torwart im Rollstuhl sitzt.

Fan des Tages wird für mich der VfB-Spieler mit der Nummer 5. Der jede gelungene Aktion total euphorisch bejubelt – auch die des Gegners. Eine schöne verbindende Geste, wie man sie von Joshua Kimmich jetzt nicht gesehen hat.

1 ½ Jahre Vorbereitungszeit hat es gebraucht, dieses besondere Turnier. Und dann wird doch noch am Spieltag selber bei laufendem Spielbetrieb entschieden, auch den/die Spieler*in des Tages spontan zu küren. “Haben wir denn genug Pokale?“ fragt ein Mitarbeiter der Diakonie. Haben sie. Und der geht vollkommen verdient an den Rolli-Torwart.

Turnier-Sieger wird am Schluss das Team United Nellingen/Esslingen. Aber Gewinner – das sind sie alle.
 

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Das Leben ist ein Wimmelbild

11.07.2024

Das große Jahresfestder  Diakonie Stetten auf dem Schlossberg - zum 175. Geburtstag wird das natürlich besonders bunt gefeiert: die ganze Diakonie-Familie ist gekommen und man sieht ihr die Freude am Zusammensein an.

Bei aller Leichtigkeit merkt man auch, wie viel harte Arbeit und Liebe in diesem Fest und in diesem Programm steckt: Es gibt Essen & Trinken, Information & Unterhaltung, große & kleine Besucher, Menschen mit & Menschen ohne Behinderung, Klient*innen & Mitarbeiter*innen, Reden & Grußworte, inklusives Theater & eine inklusive Bigband, Schönes aus den Remstal-Werkstätten & Bilder aus der Kreativwerkstatt, eine vegane Rote (!) & sogar ein Eis, das an das Jubiläums-Logo angelehnt ist. Und so viel mehr.

Alles mit der Betonung auf dem &. Dem Miteinanderleben statt nur nebeneinander zu existieren. Dieses Und, das die Arbeit der Diakonie so prägt. Und das an diesem Tag  gefeiert und an jedem anderen Tag gelebt wird.

Passenderweise gibt es zur Feier des Tages auch ein eigenes Diakonie-Wimmelbild als Geschenk. Ein buntes Panorama an Orten, Situationen, Wirkungsstätten - in vielen finde ich mich wieder. 6 Social Media Zivi Monate später.

Und ich stelle nach diesem halben Jahr eine schöne Veränderung in mir fest: aus Berührungsangst ist Berührungslust geworden. Ich habe richtig Bock auf Begegnung mit all den Menschen in diesem Wimmelbild namens Leben.

 

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Die Kunst ist nicht behindert

04.07.2024

Atelierbesuch in der Kreativen Werkstatt der Diakonie Stetten, die insgesamt 30 Künstler*innen mit geistiger oder psychischer Einschränkung Raum und Zeit gibt, sich kreativ auszudrücken. Kein betreutes Malen, keine Therapie – nur künstlerisches Schaffen. Outsider Art nennt der Kunstmarkt das dann. Aber um solche Kategorisierungen geht es hier in Waiblingen nicht. Obwohl es regelmäßig Ausstellungen gibt. Obwohl an manchen Werken Preisschilder zwischen 200 und 500 Euro hängen.

„Für die meisten ist das der wichtigste Tag der Woche“ erzählt Andrea vom Team der Kreativen Werkstatt. „4 Tage die Woche bekommen sie gesagt: So musst du es machen! Daran musst du dich halten.“ Und dann ist Ateliertag – und es gibt kein Richtig und kein Falsch mehr. Nur die Einladung: macht, was Ihr wollt. Denn so fängt Kunst an.

Das Besondere an den Werken ist dabei das Besondere an den Künstler*innen. Sie kennen keine Bildkomposition, keinen goldenen Schnitt und keine Blockade vor der blanken Leinwand. „Die malen munter drauf los“ beschreibt es Andrea.

Und sie machen doch tatsächlich, was sie wollen: Patrick schläft heute lieber statt zu malen. Torsten zeichnet endlose Zahlenreihen, zu denen ihn seine Armbanduhr inspiriert. Michaela sucht noch einen Titel für ihr Werk. „Frau“? „Schal“? „Haare“?

Ihr Bild hat soviel Lebensfreude – und eine versteckte Botschaft: die Künstlerin mag eine Einschränkung haben, doch die Kunst ist nicht behindert. Für Andrea geht dieser Gedanke noch lange nicht weit genug. Nächstes Ziel: die Inklusion der Bilder. Werke von Menschen mit und ohne Behinderung zusammen ausstellen, vermarkten, verkaufen. Die Kunst nicht danach zu bewerten, wer sie geschaffen hat. Keine Out- und keine Insider mehr. Und damit das zu machen, was Kunst am besten kann: Mauern in Köpfen einreißen.

 

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Das Haus der Bewohner

04.06.2024

Social Media Zivi-Einsatz in Schwäbisch Gmünd in einem Wohnhaus für Menschen mit geistiger Behinderung. Hier leben 24 Bewohner*innen zwischen 21 und 93 in vier Gruppen - für jede sollte heute morgen eine Betreuung da sein. Theoretisch. Aber das Leben hält sich nicht an Theorien: ein Mitarbeiter hat sich krankgemeldet, ein Bewohner die halbe Nacht gekotzt. Und letzte Woche ist auch noch Kalle gestorben. Mit 66, ganz plötzlich. Ein Foto, ein paar Steine und Kerzen erinnern im Eingangsbereich an ihn.

Also ist heute alles durcheinander. Julian, der das Haus leitet, muss Personal-Tetris spielen: wer passt wohin? Ausnahmesituationen scheinen die Regel zu sein. Aber Julian bleibt bewundernswert gelassen und freundlich. „Ich mag die Arbeit mit Behinderten,“ sagt er und jedes Wort ist wahr. Keine Spur von Burnout, Genervt- oder Überfordertsein.

Meinen Morgen verbringe ich in Gruppe 4 mit Marvin, Hannah und Anke. Die anderen Bewohner*innen sind zuhause bei ihren Familien. Brückentag gilt auch für Menschen mit Behinderung. Von Anke bekomme ich einen selbstgefertigten Ring geschenkt. Marvin toastet Brot für alle und meint, er wolle heute „einfach nur chillen.“ Soll er und darf er. Denn das hier ist das Haus der Bewohner, erklärt mir Julian. Er und seine mehr als 20 Mitarbeiter*innen sind hier nur Gäste, die assistieren und unterstützen. „Aber wohnen tun hier die Bewohner.“

Eine davon ist Hannah. Die sich wünscht, bald keine Betreuung mehr zu brauchen. Wenn da nur die verdammten epileptischen Anfälle nicht wären. Immer wenn einer kommt, so wie letzte Woche, ist sie enttäuscht von sich selbst. Weil sie das zurückwirft in ihrem großen Wunsch, freier zu leben, mehr Rückzug zu haben, einen Partner fürs Leben zu finden. Und den zu heiraten. So wie ihre Schwester. Ich frage, wie er sein soll, Hannahs Mann fürs Leben. „Er soll mich akzeptieren wie ich bin und akzeptieren, dass ich etwas habe. Und wenn ich etwas habe, soll er mir helfen“, sagt sie. Gleich fährt auch sie nach Hause, um Zeit bei der Familie zu verbringen. Wer sie abholt, weiß sie noch nicht,. Die Mama, der Papa, die Schwester. „Solange irgendjemand kommt, ist es gut.“ Danke ihr drei, dass ich in Eurem Haus zu Gast sein durfte.
 

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Der Lauf des Lebens

21.05.2024

Ich sag’s lieber gleich: ich bin kein Läufer. War aber schon oft auf Laufveranstaltungen. Das kommt davon, wenn man mit einer Triathletin / Marathonläuferin verheiratet ist. Begleitfahrzeug und Streckenfotograf kann ich.

So auch beim 17.AOK Firmenlauf, bei dem die #DiakonieStetten zur Feier des Jahres mit 175 Läufer*innen an den Start gegangen ist. Und wie es sich für ein Jubiläum gehört, trägt das Team die Startnummern vom Gründungsjahr bis heute. 1849 bis 2024. Respekt für diese Logistik an alle Beteiligten.

Alle sind sie da: die Daimlers, die Dekras, die Boschler. 6000 Menschen, 26 Grad und 95% Polyester sind für den Unbeteiligten schon vor dem Lauf eine leichte Herausforderung in der Nasengegend. Die Stimmung ist aufgekratzt bis gut. Daran können auch die Dixi-Klos und der Event-DJ nichts ändern, bei dem ich mich frage, was schlimmer ist: seine Musik oder seine Ansagen?

So divers das Team der Diakonie ist, so unterschiedlich sind auch die Aufwärm-Rituale: einige dehnen sich, andere rauchen. Eine letzte Banane als legales Doping. Es gibt Group- und Einzelhugs oder ein Selfie mit OB Nopper.

Und da steht das Selbsthilfe-Grüppchen „ich bin sau nervös“ zusammen.

Was sich durch alle Firmen durchzieht: so richtig weiß keiner, wann, wo und wie es losgeht. Laufen ohne Vorgesetzte steht eben in den wenigsten Job-Beschreibungen. Also muss man sich auf sein Team verlassen. Etwas, das man – wie ich inzwischen gelernt habe – in der Diakonie Stetten ganz gut beherrscht. 

Einige ganz Tapfere treten zusammen mit Klienten und Klientinnen im Rollstuhl an. Der Jubel für diese Startergruppe ist riesig und schenkt nochmal einen Schub Motivation für die bevorstehenden 6 Kilometer.

Am Ziel treffe ich Dodji mit der historischen Startnummer 1849 wieder. Bissle chaotisch sei sie gewesen, die Streckenführung, lacht er. Seine Zeit wisse er gar nicht, aber es gehe ja auch nicht ums Gewinnen. Sondern ums Dabeisein.

Und ich bin froh, nur als Zuschauer dabei gewesen zu sein. So wie ihr nach dem Lauf ausseht, möchte ich bitte nicht riechen.
 

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Selfie mit der MTV-Gräfin

16.05.2024

Wenn auf einer Einladung die Worte „Flöte“ und „Festakt“ stehen, bin ich normalerweise verhindert. Aber man wird ja nicht alle Tage auf ein Schloss eingeladen. Der Anlass: Die Geburtstagsfeier zum 175. der Diakonie Stetten.

Nicht auf den Tag, aber auf den Ort genau. Denn auf Schloss Riet beginnt die Geschichte. Hier mietete Dr. Georg Friedrich Müller im Jahr 1849 Räume für sich und zunächst 2 Kinder.

Ohne zu wissen, dass sein Lebenswerk so viele Jahre später noch Bestand haben soll. Und dass ihm seine Bezeichnung heute – in Zeiten von political correctness und Shitstorms – wohl um die Ohren fliegen würde: „Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder.“

Heute wie damals sind die Schlossherren die von Reischachs. Gräfin Kimsy von Reischach begrüßt mich mit den Worten: „Du bist immer da, wo es cool ist.“ Heute abend ist es also cool auf Schloss Riet.

Dazu 3 fun facts: 1. Wir kennen uns aus anderem Kontext – daher die Vertrautheit. 2. ihr voller Name lautet Kimberly Karen Daisy Louise Gräfin von Reischach. 3. in den 90ern war sie mal Moderatorin beim Musiksender MTV.

Ich bekomme mein Fanboy-Foto, hab aber die Augen zu. Anfängerfehler. Wie auch meine Frage, wie oft der Gärtner kommen muss. „Der lebt hier“. Wir müssen den wunderschönen Garten, der ein Park ist, aber leider verlassen und in die Eingangshalle ausweichen, weil es anfängt zu regnen. Dafür wird’s dann innen schön kuschelig. Zusammenrücken können sie ja bei der Diakonie.

Wir sitzen unter Geweihen und Wildschweinkopf. Lanzen und Kronleuchter. Die perfekte Kulisse, um die lange Geschichte lebendig werden zu lassen. Vorstand, Archivar, Bürgermeister und Pfarrer erzählen kurz und kurzweilig. Dann folgt die Flöte. Und weil sie ganz mutig und beherzt von einem Klienten der Diakonie gespielt wird, ist es auch gar nicht schlimm. Sondern sogar ein bisschen cool.

 

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Derbysieger der Herzen

30.04.2024

Stuttgarter Stadtderby auf der Waldau. Die Kickers empfangen den VfB II. Erster gegen Dritter. Der Wettergott stellt seine Schalter auf 20 Grad und der Fußballgott seine auf Dramatik pur: Es geht für beide um nicht weniger als den Aufstieg. Für mich als Kickers-Fan wird das ein Spiel unter erschwerten Bedingungen. 1. schwächeln meine Blauen gerade zum Saisonende immer mal wieder. 2. sind viel zu viele VfB-Fans in Degerloch und machen das Kickers-Heimspiel zu einem VfB-Auswärtsspiel. 3. habe ich Anhang: Neun Klienten aus einem Wohnhaus der Diakonie Stetten für Menschen mit geistiger Behinderung. Alle haben sie kognitive Einschränkungen, manche auch körperliche. Ich bin normalerweise ein 1-Mann-Fanclub. Komme und gehe und bruddle, wann ich will. Und muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Das wird eine neue Erfahrung hier. Danke dafür an die SV Stuttgarter Kickers e.V. für die Einladung. Und an alle fürs Dabeisein.

Kurze Vorstellungsrunde. Zum Warmwerden frage ich, wer für welche Mannschaft ist. Die meisten für den VfB. Der Martin für die Bayern. Und Justine ist es „scheißegal, wer gewinnt. Hauptsache ich kann rauchen.“ Sie habe ich schon vor dem Anpfiff ins Herz geschlossen.

Fabien erzählt mir, dass er früher gearbeitet habe, jetzt lange raus war und ab Montag wieder Werkstätten anrufen werde, weil er zurück ins Berufsleben will.

Und mit Bayern-Fan Martin entsteht so etwas wie ein Gespräch über Fußball. Er hofft, dass die Kickers das 1:0 schießen und das Spiel dann zu Ende ist. Ja – das wünscht sich der Großteil der 9.550 Zuschauer an diesem Nachmittag auch. Aber es soll anders kommen:

Der VfB geht erst 1:0, dann 2:0 in Führung. Das war’s dann wohl mit Heimsieg und vielleicht sogar Aufstieg – denken wohl alle, außer Martin und Fabien. Denn Stehaufmännchen und Zurückkämpfer gibt’s nicht nur in Plattenhardt bei der Diakonie sondern auch im Kader der Kickers. Die gleichen spät und verdient noch zum 2:2 aus und das ganze Gazi-Stadion bebt.

Vor lauter Aufregung lassen sich einige der Klienten von den Betreuern in den Arm nehmen. Das war wohl etwas viel. Und hätten die Kickers verloren, hätte ich von diesem Angebot auch Gebrauch gemacht.

Am Ende trennen sich die Kickers und der VfB II also leistungsgerecht unentschieden. Das beste Team war an diesem Samstagnachmittag aber sowieso „mein Team“ – die Plattenhardt Ultras.

 

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Kollektive Intelligenz: mein erster Hackathon

15.04.2024

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wie man KI in der Sozialbranche einsetzen kann, veranstaltete die Diakonie Stetten im Rahmen des Jubiläumsprogramms einen spannenden, inklusiven Hackathon. Eingeladen waren Menschen, die bei der Diakonie arbeiten, bei der Gemeinde Kernen – und Studierende aus unterschiedlichen Fachrichtungen.

Für mich war das der erste Hackathon – und ich hatte mehr Computer, mehr Nerds und weniger komplexe Aufgaben erwartet: „Wie können wir vermeiden, dass Menschen mit Behinderung durch den Einsatz von KI noch mehr ausgeschlossen werden?“ lautet z.B. eine.

In wild gemischten Gruppen sollten die Teilnehmer*innen neue Lösungen für diese und andere Fragen finden. Dazu wurde diskutiert, ge-prototyped, gepitcht - und wenn es dafür schon eine App gäbe, hätte man hier Köpfe rauchen sehen. Beim Nachdenken, beim Eintauchen in die oft fremde Thematik Pflege. Und beim Befragen derer, die täglich mit diesen Aufgaben konfrontiert (und zum Teil sicherlich auch überfordert) sind: Die Mitarbeiter*innen und Klient*innen der Diakonie, die Rede und Antwort standen, damit die Lösungen, die hier kollektiv entstehen sollten, sich auch an den echten Problemen orientieren. Die Ideen reichten vom digitalen Beratungs-Bot bis zur ethisch und moralisch denkenden Software.

Zwischen den Sessions gab es dazu Vorträge, Praxisbeispiele und wertvolle Tipps von Moderator*innen und Mentor*innen. Der wichtigste lautete: KI muss bitte immer der Co-Pilot sein und darf nie ans Steuer. Es braucht hybride Lösungen. Mensch und Maschine sollen zusammenarbeiten, nicht gegeneinander.

Da war es wieder: dieses Miteinander, das auch die Arbeit der Diakonie Stetten ausmacht. Miteinander ausprobieren und diskutieren. Berührungspunkte schaffen. Gemeinsames Nachdenken und Dranbleiben. Das Machen und das Überwinden von Denkmustern. Denn so fängt jede Lösung an: Indem man sich intensiv mit der Frage beschäftigt. Und das am besten nicht alleine.

 

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High Five mit zwei linken Händen

28.03.2024

Besuch im Berufsbildungswerk Waiblingen, das zur Diakonie Stetten gehört und jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf dabei hilft, eine Ausbildung und erste Schritte auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Oder überhaupt mal rauszufinden, was sie können und wollen. Das nennt sich dann BvB - Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme – und ich werde in so eine mittenrein geworfen.

Wir überspringen die Eignungsanalyse und ich werde unvernünftigerweise in die Holzwerkstatt gesteckt. Zu Tim, Timo, Angelina. Alle drei um die 18. Alle drei erstmal skeptisch, was der Mann mit den 2 linken Händen da macht. Der macht, was er am besten kann: Quatsch.

Ich erlaube das Rauchen in der Werkstatt (machen wir nicht), führe den Leitsatz „Freitag ab eins macht jeder seins“ ein (praktizieren wir nicht). Und bestimme, dass bald Osterferien für alle sind.

Die jungen Menschen danken das mit High Fives und ihren Geschichten. Von abgebrochenen Ausbildungen. Vom Fehlversuch, länger als einen Monat in einem Büro zu überstehen. Von Psyche und Psychiatrie. Vom Scheitern, Wiederaufstehen und hier neu anfangen. Von zweiten, dritten und vierten Chancen.

Und ich verstehe, dass es hier gar nicht um Holz geht. Es geht um Fürsorge. Darum, an diese jungen Menschen zu glauben. Und ihnen zu vermitteln, dass das System sie hier nicht rauskegelt, sondern einlädt, Teil davon zu sein. Das hier ist ein guter Ort. Und die Kids haben Glück.

Weil sie sich und ihren zukünftigen Job hier unter besten Voraussetzungen ausprobieren können. In 35 Berufen. In modernen Werkstätten. Wo nötig psychologisch, pädagogisch, medizinisch unterstützt. Bei Bedarf gibt’s im Internat auch Wohnplätze.

Schön zu sehen und zu hören, dass das Konzept aufgeht: es gibt Erfolgsgeschichten wie die von Denise, die mit Lernschwierigkeiten und Epilepsie hierher kam. Und die heute Chef de Service in einem 5-Sterne Hotel in der Schweiz ist.

Einer der Jungs hat hier schon 12 Praktika hinter sich. In 12 Bereiche reingeschnuppert. Das Ergebnis: ihm gefällt „alles am besten, außer Ziehpflanzen.“ Jetzt will er das vereinen und Facility Manager werden.

Nicht alle, die hier Orientierung suchen und finden sind Kids. Einige sind erwachsen. Einer war 38. Und dann eben noch ich. Ich weiß jetzt, was ich NICHT machen will: was mit Holz und Säge. Aber super gerne was mit diesen tollen Menschen hier.

 

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Ganz normal, dass wir verschieden sind

15.03.2024

Die Torwiesenschule in Stuttgart-Heslach – auch eine Einrichtung der Diakonie Stetten - vereint Sonder-, Real- und Grundschule unter einem Schuldach. Und es heißt nicht mehr Sonderschule, habe ich gelernt, sondern SBBZ – Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum.

Hier lernen Schüler*innen mit und ohne Behinderung gemeinsam, aber unterschiedlich. Je nach motorischer und geistiger Fähigkeit. 2 Schulstunden lang darf ich reinschnuppern und weil es eine Schule ist, natürlich auch was lernen.

Zum Beispiel, wie das bitteschön funktionieren soll, wenn ein Teil der Schüler*innen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung durchs Leben geht, der andere Teil aber nicht.

Indem man mit unterschiedlichen Anforderungen am gleichen Thema arbeitet, erklärt mir die superfreundliche Schulleiterin. Das nennt sich dann „Lernen am gemeinsamen Gegenstand“. Beispiel Mathe: während ein Kind mit geistiger Behinderung üben muss, einen kegelförmigen Gegenstand zu greifen und zu halten, bekommt ein Kind ohne Einschränkungen die Aufgabe, dessen Volumen zu berechnen. Beide arbeiten mit dem gleichen Objekt, beide sitzen im gleichen Klassenzimmer, beide haben Lernerfolge.

Ich bekomme einen Eindruck und einen Einblick in vier Klassen. Erlebe Kids beim Ausdenken eines Fantasietieres, das sie später als Stop-Motion-Film animieren, beim Basteln von Osternestern-to-go, aber auch dabei, wie sie Rechenaufgaben am iPad oder mit Spielgeld lösen. Und sogar beim Stricken. Im Schulfach Textiles Werken - mein persönlicher Horror, haha, Handarbeiten eine glatte 5.

Mehr als der Unterricht interessiert mich aber, wie das für die Schüler selbst wohl funktioniert. Dieses Miteinander, das für manche doch bestimmt auch ein Durcheinander ist. Ein Junge, der fast nichts sieht, ein anderer im Rollstuhl, ein Mädchen mit Trisonomie 21 und dazwischen Schüler und Schülerinnen ganz ohne Beeinträchtigungen. Und einer davon, ruft mir beim Rausgehen die Antwort auf mein großes Fragezeichen zu: „Es ist doch ganz normal, dass wir verschieden sind.“

 

 

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Einhundert Jahre voller Leben

29.02.2024

Ihren Rollator nennt sie liebevoll Kutsche, ihr Leben - nachdem es lange ein verworrenes Labyrinth war - heute einen blühenden Garten. Edith Humburg, Jahrgang 1923, ist Bewohnerin des Alexander-Stift in Allmersbach im Tal. Eine Altenhilfe-Einrichtung, die zur Diakonie Stetten gehört. Ich darf die Pfarrerstochter und Künstlerin besuchen. Meine Freude ist zum Glück größer als meine Scheu vor einem Altenheim. Und sie verrät mir gleich mal das Rezept gegen ihre Depressionen: „Ich sage mir dann hoppla! Das sind deine privaten Gedanken in deinem eigenen Hirn. Niemand anders denkt die. Du bist selbst verantwortlich für das, was du denkst. Da hast du den verkehrten Sender eingeschaltet.“

Ich hatte eine 100-Jährige in einem kargen Raum im Krankenbett erwartet. Aber Edith Humburg sitzt an einem geschreinerten Schreibtisch, in einem gemütlichen Zimmer voller Erinnerungen, ein offenes Notizbuch vor sich. Es scheint, als hätte ich sie beim Arbeiten unterbrochen. „Denken tue ich sehr viel – das ist mein Hobby“, sagt sie. „Und hier habe ich Zeit zum Nachdenken.“

Bevor sie nach Allmersbach kam, lebte sie in Ochsenwang auf der Alb. In einem Ort, den sie beim Wandern für sich entdeckt hat. Mit 89 zog sie aus einer 180 Quadratmeter Villa in ein 16 Quadratmeter Zimmer im Hotel Krone. Alleine und aus freien Stücken. „Ich habe immer krasse Veränderungen durchgemacht.“ Die Weite dort habe sie froh gemacht. Und die Ruhe. „Man hat mich auch nicht mit Besuchen überfallen.“

Viele feine Details unserer intensiven Begegnung klingen immer noch in mir nach. Das war eine schöne Lektion Lebensschule. Meine Lieblingsstelle: Edith Humburg hat 50 Jahre ihres langen Lebens in Degerloch verbracht. Und als ich ihr erzähle, dass ich dort auch zuhause bin, strahlt sie – und sagt einen Satz, der auf Kissen gestickt gehört. „Das heimelt mich jetzt aber riesig an.“ Am 18.6. wird Edith Humburg 101 Jahre jung.

 

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Ein kleines bisschen Inklusion

16.02.2024

Hier für die Diakonie Stetten darf ich 2024 den Social Media Zivi machen. Meinen richtigen Zivildienst habe ich damals in einer Tagesgruppe für milieugeschädigte Kinder gemacht. Das Foto lässt erahnen, wie gerne. 20 Monate VW-Bus fahren und Kinder betreuen und bespaßen, die nicht das Glück hatten, am Killesberg geboren zu sein, sondern in Orten wie Neugereut, Hallschlag, Stuttgart-Rot. Problemzonen der Stadt. Mit Menschen mit Behinderung wollte ich damals bitte nicht arbeiten müssen. Zu groß waren die Hemmschwelle und im wahrsten Sinne die Berührungsängste.

Sowas gab es nämlich nicht, Ende der 80er, in den Stuttgarter Vorzeige-Vororten: Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung. Nur der Bruder vom Urban - ein Mitschüler und Nachbar – der hatte eine geistige Behinderung und wurde morgens mit dem Bus geholt (vermutlich von einem Zivi). Wir anderen fanden ihn merkwürdig, ein bisschen drollig und ein großes bisschen befremdlich. Aber er war für uns auch „keine große Sache“: wir hatten weder ein besonderes Maß an Empathie für die Familie, noch haben wir uns über ihn lustig gemacht. Er war halt da. Und mehr als 40 Jahre später frage ich mich, ob das nicht vielleicht schon ein bisschen Inklusion war.

 

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Als die grauen Busse kamen

30.01.2024

Wenn man das Jubiläumsjahr der Diakonie Stetten wirklich begleiten will, muss man auch in die Ecken, in denen einem nicht zum Feiern zu Mute ist: Die Gedenkstätte Grafeneck bei Gomadingen auf der Schwäbischen Alb. Über 300 Bewohner der Diakonie Stetten wurden hier systematisch von den Nazis getötet, über 10.000 Menschen mit Behinderung insgesamt. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erinnern Vorstand, Mitarbeiter und Bewohner der Diakonie an dieses unfassbare Kapitel. Wie Menschen aus der Anstalt in Stetten abgeholt – und hierher nach Grafeneck gebracht wurden. In grauen Bussen, wie es später hieß, weil die Schwarzweiß-Fotografie das suggerierte. Wie man noch versucht hat, Bewohner in den Weinbergen zu verstecken. Und wie das für 395 nicht gelang, die in die sogenannte Tötungsanstalt kamen und noch am gleichen Tag ermordet wurden, weil sie anders waren.
 
Zum Gedenken bewegende Reden, die Niederlegung dreier Steine und ein gemeinsamer Besuch des angemessen gut gemachten Dokumentationszentrums. Letztes Jahr waren mehr als 400 Besuchergruppen hier. Es scheint also nicht egal zu sein. Was damals passiert ist – und wie heute daran erinnert wird.
 
Und so beunruhigend es ist, dass es zunehmend Leute (und Parteien) gibt, die da anknüpfen wollen: Menschen auszugrenzen, die nicht in ihr Bild passen. So beruhigend ist es, dass es Hundertausende andere gibt, die jetzt aufstehen, auf die Straße gehen und sagen „Mit uns nicht!“. Denn eines gilt für die Proteste gegen Rechts wie für diese Gedenkstätte: Traurig, dass es das braucht. Gut, dass es das gibt.

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Die Kirche im Dorf gelassen.

25.01.2024

Das Dorf – das war in diesem Fall Kernen-Stetten. Die Kirche die Schlosskapelle auf dem Gelände der Diakonie. Und der Anlass: mein erster „Einsatz“ als Social Media Zivi. Und dann gleich Gottesdienst. Zu sowas gehe ich sonst nur wenn jemand heiratet oder stirbt. Aber an diesem Sonntag war alles anders. Vor allem der Gottesdienst. Es kamen sogar richtige Gospelgefühle auf. Nicht nur, weil die Pfarrerin mit unüberhörbar amerikanischem Akzent durchs Programm geführt hat. Sondern vor allem wegen der wilden inklusiven Mischung an Besuchern: Angehörige, Mitarbeitende und Klient*innen der Diakonie mit all ihren Macken und Beeinträchtigungen.

Das Berührende war dann für mich auch weniger das, was von der Kanzel kam, sondern das, was in den Sitzreihen passierte: ein ständiges Kommen (und auch Gehen), ein Kommentieren, wie schön gesungen wurde und so einige hereingerufene „Amen“ an eher unpassenden Stellen. Das sorgte für eine unglaubliche Lebendigkeit, wie ich sie sonst nicht aus Kirchen kenne. Als dann einer der Klienten während der Predigt aufstand, durch die Sitzreihen ging , Menschen mit Handschlag begrüßte und sich solange umsetzte, bis er den richtigen Platz gefunden hatte, da dachte ich mir: Es kann sehr gut sein, dass dieser Rahmen hier, dieser Ort – und ja, auch dieses Betreuungskonzept – für ihn genau dieser richtige Platz ist.

 

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